Bauer Friedrich Reineking segelte 1847 mit 111 Langenholzhausern nach „Neu Lippe"
von Friedel Schütte
|
Lippischer Bauer und Auswandererführer
Friedrich Reineking |
Den schätzungsweise 20000 Lippern in der „Neuen Welt" sind in den 40er-Jahren des 19.Jahrhunderts drei geschlossene Gruppen als Kundschafter vorausgesegelt. Ausgangsjahr war 1846. Damals gab es eine große Missernte mit folgender, katastrophaler Teuerung. Hinzu kam verbreiteter Ärger im Volk über eine Änderung der reformierten Kirchenordnung: Der alte Heidelberger Katechismus sollte in den Gemeinden nicht mehr benutzt werden dürfen. Abendliche Erbauungsstunden während der Woche (so genannte „Versammlungen") sowie kirchliche „Anti-Schnaps-Vereine" nach dem Muster der benachbarten „Ravensberger Erweckungsbewegung" hatte die Regierung in Detmold unter Strafe verboten - aus Sorge vor „demokratischer Zusammenrottung", wie das damals hieß.
Im lippischen Brake machte die Polizei Ernst: Veranstalter solcher pietistischen Bibel-, Bet- und Singestunden unter Verwendung abgeschaffter frommer Bücher wurden, zur Abschreckung, für je zwölf Stunden ins Gefängnis gesteckt.
Da reichte es den Braker Pietisten! Unter Führung des Kaufmanns H. A. Winter segelten die ersten 80 von ihnen im März 1846 über New Orleans nach St. Louis. Ihr anfängliches Ziel hieß Texas, wo nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg seit 1777/78 bereits einzelne versprengte Lipper ansässig geworden waren.
In Illinois und Missouri gefiel es den Brakern jedoch so gut, dass sie sich hier in Gasconade County (Hermann), Adams County (Quincy) und in St. Louis selbst niederließen.
Im Frühling 1847 folgte eine zweite große Gruppe lippischer Auswanderer aus Brake und Vossheide. Führer war diesmal der Holzschuhmacher August Winter. Das Ziel hieß nun Iowa, Nord-Illinois und Indiana.
Die größte Gruppe von „Protestanten" gegen das Kirchenregiment in Detmold, 112 fromme Dörfler in Langenholzhausen, wurde im Mai desselben Jahres von einem Bauern in den äußersten Norden des Staates Wisconsin geführt: Friedrich Wilhelm Reineking aus Langenholzhausen Nr. 62, damals bereits 58 Jahre alt und Vater von drei Söhnen und zwei Töchtern. Diese geschlossene Gruppe gründete nordwestlich von Milwaukee (Lake Michigan) die Urzelle der wohl größten Ansiedlung von Lippern in den USA - ihr „Neu Lippe" mit dem zentralen Ort „Hermann" als Mittelpunkt.
Im Grunde war der nach bisherigem Wissensstand bedeutendste lippische Auswandererführer Friedrich Reineking (1789-1861) gar kein richtiger Lipper. Sein Vater trug nämlich den Namen Böger und stammte aus dem nahe gelegenen niedersächsischen Grenzdorf Möllenbeck. Erst durch die Ehe mit der Witwe Marie L. Reineking wurde aus dem „Hannöverschen" Böger der lippische „Hoppenplöcker" Reineking auf dem gleichnamigen Hof Nr. 62 am Habichtsberg in Langenholzhausen (im Kirchenbuch werden die Reinekings auch schon mal „Reinekingmeier" genannt).
August Rauschenbusch als Anstifter
|
Mit dem Schwesterschiff dieses Zweimasters „Venus von Bremen",
der gleich ausseheden „Agnes von Bremen", segelten die
Langenholzhausener 1847 nach Amerika. Dieses Bild stammt aus
dem Jahre 1832 (Schiffahrtsmuseum Bremerhaven) |
Unter den Erweckungspredigern aus dem Ravensberger Land, die häufig in Lippe auftraten, war auch der reisende lutherische Auswandererpastor August Rauschenbusch (1816-1899) aus Altena, verwandt und verschwägert mit den Ravensberger Predigerfamilien Weihe, Kuhlo und Rauschenbusch aus dem Kreise Herford. Dieser hatte 1846 bereits im Auftrag der Barmer Mission eine Inspektionsreise nach Illinois und Missouri hinter sich und ermunterte die verstörten Christen in Lippe in seinen Predigten zur Emigration, - so eindeutig, dass ihn die Regierung in Detmold mehrfach des Landes verwies.
Auch in Lübbecke und Herford wurde Rauschenbusch wegen seiner offenen „Anstiftung zur Auswanderung" mehrfach kurzfristig ins Gefängnis gesteckt.
Zunächst hatten sich die Langenholzhauser den Braker Auswanderern anschließen wollen. Da die jedoch wegen großer Nachfrage bereits zwei Gruppen beisammen hatten, wurde Reineking geraten, sich mit seiner ohnehin übergroßen Schar von 112 Personen allein auf den Weg zu machen. So kam es denn auch.
Während des Winters 1846/47 verkauften Reineking und seine mitreisenden Nachbarn ihre Höfe, das Land und allen Hausrat, bauten sich stabile Seekoffer, füllten diese mit allem Notwendigen (Werkzeug wie Äxte, Beile, Sägen, dazu Bibel und Heidelberger Katechismus nicht zu vergessen) und bestellten in Bremen für 24 Familien, 13 junge Männer und zwei unverheiratete Frauen Plätze auf dem Transatlantik-Segler „Agnes von Bremen".
|
Bethel Reformed Church in Hermann Wisconsin:
Auf diesem Grabstein für Anna M. Spindler aus Blomberg
wurde sogar eine lippische Rose eingemeißelt -
allerdings mit nur vier, statt fünf Blütenblättern |
Ein betrügerischer Kapitän brachte die Lipper statt nach New York nach Kanada.
Friedrich Reineking und seine Mitreisenden suchten ihr Schiff nach dem Preis aus: Die „Agnes von Bremen" war am günstigsten - warum, spürten die sparsamen Lipper leider erst auf hoher See.
Am 4. Mai 1847 wurden in Bremerhaven Segel gesetzt. Ziel sollte New York, mit Weiterfahrt in die Prärie von Iowa sein.
Das Schiff war total überladen. Der Jurist und Schriftsteller Jerome C. Arpke (B. L.) hat die Einzelheiten dieser fürwahr höllischen Überfahrt 1895 in seinem Buch „Das Lippe-Detmolder Settlement in Wisconsin" nach den Erzählungen seiner mitreisenden, überlebenden Angehörigen beschrieben: „Nahezu 400 Seelen waren auf engstem Raum zusammengepfercht. Die Leute lagen so dicht beieinander, dass sie sich nur gemeinsam auf Kommando zu der anderen Seite drehen konnten.
Bequemlichkeit und einfachste sanitäre Anlagen gab es auf dem Schiff nicht. Schmalhans hieß der Küchenmeister. Die „Bohnensuppe" bestand aus lauwarmer Brühe. Das Wasser war unrein und knapp. Hunger, Durst und Übelkeit waren tägliche Begleiter. Wie zu erwarten, gab es viele Kranke. 13 oder 14 Mitreisende starben, darunter auch drei unserer armen lippischen Auswanderer."
Aus Furcht, mit seinem Schiff an die Kette gelegt zu werden, brachte der Kapitän seine überlebenden, völlig entkräfteten Passagiere nicht nach New York, sondern setzte sie bei Quebec in Kanada an Land. Von hier aus führte der Weg per Boot, Eisenbahn und zu Fuß weiter nach Sheboygan, einem damals kleinen Fischerdorf am Lake Michigan. Hier traf man endlich wieder Deutsche, die sich der völlig abgerissenen Lipper annahmen. Doch auch in diesem Hafen Lug und Trug.
|
Immanuel United Church of Christ in
Plymouth, Sheboygan County: noch heute
gemeindliches Zentrum für die Nachfahren
der Langenholzhausener Auswanderer |
Ein Landagent riet den Langenholzhausern dringend ab, angesichts ihrer leeren Kassen nach Iowa zu trecken. Stattdessen gebe es in Sheboygan County riesige Wälder und fruchtbares Ackerland nahezu umsonst zu kaufen.
Reiseführer Reineking: „Wo wir Lipper hingehen, da gehen alle hin!"
Das ließen sich die meisten Lipper der Gruppe nicht zweimal sagen: Friedrich Reineking rief zur Abstimmung. Die Mehrheit wollte nach Sheboygan ziehen. Ein nicht geringer Teil der Gruppe sprach sich dennoch für Iowa aus. Da stellte sich der Bauer Wilhelm Reineking auf einen Hügel, damit ihn alle sehen konnten, und gab (so berichtet Jeromin Arpke) die Parole aus, auf Lipper Platt: „Niu Kinners, lustert mohl ens täu! Wo wi Lippers henngoht, do goh wi olle henn! Dorümme packet jibbe Klamotten un kuhmt met no Westen. Do wütt wi iuse nuigget Lippe bäuhen!"
So kam es denn auch. Um sicher zu gehen, kaufte Friedrich Reineking dem Agenten für die ganze Gruppe erst einmal 1 000 Acre (400 Hektar) Wald- und Weideland in der Wildnis von Sheboygan Falls ab.
Wie sich bald herausstellen sollte, lag dieser „nahe" Siedlungsplatz mehr als 50 km von der Town of Sheboygan entfernt im tiefsten Urwald. Dazwischen Bäche, Flüsse, Moore und kein einziger ausgebauter Weg.
Mit Hilfe zweier geliehener Ochsengespanne transportierten die Lipper nun ihre Kisten und Koffer querfeldein durch das wilde Land. Bis nach Howard's Grove, wo sie am 25. Juli 1847, elf Wochen nach ihrer Abreise von der Heimat, eintrafen.
Auf einer Lichtung am Wasserfall ließen sie sich nieder und begannen unverzüglich, Dutzende mächtiger Tannen für den Bau solider Fachwerkhäuser nach gewohntem, Langenholzhauser Modell zu fällen und zu Ständern, Balken und Brettern zu zersägen.
An Verpflegung war hier im späten Sommer des Jahres 1847 zunächst kein Mangel: Man ernährte sich von wilden Früchten, Beeren, Wildbret und Kartoffeln, die reisende Händler von der bereits kultivierten Küste des Lake Michigan mitbrachten.
|
Auf einer Liegenschafiskarte von Howard's Grove wird an den gelb gekennzeichneten
Feldern deutlich, wie sich die Lipper Einwanderer dicht bei dicht ansiedelten! |
Lehrgeld bezahlten Reineking und seine Männer, als sie im Wald vermeintliche Bären fingen und diese sie mit einer übelriechenden Flüssigkeit bespritzten, die einen furchtbaren Geruch ausstrahlte, der selbst nach Tagen nicht verloren ging. Das war die erste Begegnung mit Stinktieren, von denen man in Lippe nie zuvor etwas gehört hatte.
Ersten Winter im Erdloch verbracht
Für den Transport von Holz und Steinen kauften sich die Siedler gemeinsam zwei genügsame Ochsen, die sie „Fix" und „Peiter" nannten. Rasch gingen die Wochen bis zum frühen Wintereinbruch dahin. Bisher hatte man in Laubhütten übernachtet. Jetzt wurde es bitterkalt, und kein einziges Fachwerkhaus war fertig!
In ihrer Not gruben sich die Lipper tief in die steilen Hänge über dem Fluss ein. In und über den Höhlen polsterten sie alles meterdick mit Laub aus den Wäldern aus. Feuerstellen wurden gebaut, Holz- und Fleischvorräte aus den Wäldern beschafft. Denn Gewehre für die Jagd hatten die ansonsten friedlichen Lipper vorsichtshalber auch mitgenommen.
Nach den ersten starken Schneefällen musste der Hausbau ruhen. Doch die Siedler hatten für den Winter eine Erwerbsquelle entdeckt.
In Sheboygan und der großen Stadt Milwaukee wurden viele Neubauten mit Holzschindeln eingedeckt. Auf diesen Baustoff verstanden sich die Lipper von zu Haus aus sehr gut, hatte man doch auch dort aus Kostengründen Ställe und Schuppen oft mit Schindeldächern versehen.
Bald wurden per Schlitten, mit „Fix" und „Peiter" im Vorspann, riesige Mengen selbst produzierte Schindeln zur Stadt gebracht und zu Geld geschlagen. Für den Erlös konnten die Siedler Nahrungsmittel, Nägel und den notwendigsten Hausrat kaufen.
Englisch sprach zu der Zeit noch kein einziger der Langenholzhauser Siedler. Plattdeutsch war weiterhin (und über viele folgende Jahrzehnte) ihre vertraute Umgangssprache, in der sie sich selbst in Milwaukee mit seinem ungewöhnlich vielen westfälischen Einwandererquartieren mühelos verständigen konn ten. Hochdeutsch wurde nur bei den Gottesdiensten und später in der eigenen Schule gesprochen. Im Dezember 1847 lag der Schnee derart hoch, dass die wackeren Ochsen, trotz umwickelter Hufe und einer Art Kurzski aus Brettern, nicht mehr vorankamen und in der Siedlung alles ruhte - bis auf die Tag und Nacht in Gang gehaltenen Feuerstellen.
Bibellesen gegen die Langeweile
Langeweile kehrte ein. Doch dagegen hatten die frommen und bibelfesten Siedler ein von zu Haus aus allgemein gewohntes Mittel.
Statt nur sonntags, wurde in den großen Höhlen bzw. Laubhütten nun jeden Tag Gottesdienst gehalten, dazu nachmittags aus der Bibel und dem Heidelberger Katechismus vorgelesen. Friedrich Reineking und andere frühere Presbyter aus Langenholzhausen legten die Schrift aus und suchten mit ihren Landsleuten gemeinsam Trost in Gottes Wort.
Das war überhaupt das, was die Gruppe in aller Not fest zusammenhielt: unumstößliches Gottvertrauen und die persönliche Gewissheit, dass ihnen Gott diesen Weg in die „Neue Welt" gewiesen hatte!
|
Langenholzhausen mit seiner trutzigen Dorfkirche verließen die 112 lippischen Dörfler im Jahre 1847, um in der „Neuen Welt" ihren Glauben frei und unabhängig leben zu können |
Es gab auch Sterbefälle: Menschen, die den Strapazen nicht mehr gewachsen waren. Selbst zwei Kleinkinder starben. Doch in dieser Einsamkeit kamen auch Babys gesund zur Welt, ohne dass Arzt oder Hebamme dabei gewesen wären. Das Schlimmste war der schrecklich lange Winter bis in den April hinein. So etwas hatte man in Lippe nicht gekannt!
Als dann von einem Tag auf den anderen Mitte April 1848 der Frühling einzog, feierten die Langenholzhauser erst einmal Dankgottesdienst unter freiem Himmel. Dann bestatteten sie ihre Verstorbenen, was während des Winters wegen tiefgefrorener Erde nicht möglich gewesen war. Unter den ersten Toten im neuen Land befanden sich die Frau des Anführers Friedrich Reineking sowie der mehrfache Familienvater Friedrich Stock.
Dann wurde der Hausbau fortgesetzt; zunächst an den begonnenen Fachwerkbauten. Gleichzeitig erlernte man die einfache Leichtbauweise der „englischen" Siedler: Blockhäuser für die Menschen, primitive Holzscheunen für Vieh und Ernte. Das sparte ungemein viel Zeit und Material.
Frauen und Männer rodeten den Wald
Stichwort „Ernte": Saatgut war zu beschaffen. Doch die zur Einsaat nötigen Äcker fehlten.
So begannen die Männer mit dem Abholzen und Abbrennen von Wald und Busch. Auch die Frauen rodeten und gruben den Boden. „Fix" und „Peiter" kamen vor den Pflug.
Im Mai säte man das erste Sommergetreide. Der spätere Ertrag war mäßig: Erst in den folgenden Jahren lernten die Lipper, dass hier im Norden der Staaten die Klimaverhältnisse völlig anders waren als im heimatlichen Lippe und deswegen Mais und Bohnen viel besser gediehen als Roggen, Hafer oder Weizen.
Weidewirtschaft, ja: Dafür war das Land mit seinen tiefgründigen, nassen Böden wie geschaffen! Doch aus dieser Erkenntnis zog erst die nachfolgende Generation Farmer in „Neu Lippe" (Wisconsin) agrarwirtschaftlich die richtigen Konsequenzen und baute eine blühende Milchwirtschaft auf.
Für das heutige, führenden „Dairy-Land" Wisconsin haben die Lipper eben schon vor 100 Jahren den Grundstein gelegt!
Inzwischen hatten die Siedler gemeinsam Kühe, Schafe und Schweine gekauft. Auch wurden Vorräte für den nächsten Winter angelegt. Doch dieser war derart schneereich und lang, dass die meisten Tiere mangels Futter und menschliche Nahrung geschlachtet werden mussten. Der Hunger war bei Anbruch des Frühlings 1849 unbeschreiblich. In der Not wurden Laubbäume gefällt, um aus den Knospen Salat anzurichten.
Das von Reineking gekaufte Land war längst unter allen Familien aufgeteilt worden. Manche hatten noch so viel Geld oder in der Stadt Dollars zuverdient, dass sie zum Preis von 1,25 $ je Acre (1,6 Morgen) weitere Ländereien aus dem Besitz der Regierung erwerben konnten.
Ab 1848 eigene lippische Gemeinde
Im Sommer 1848 gründeten die lippischen Siedler ihre reformierte „Immanuel-Kirchen-Gemeinde". Mangels eines Gotteshauses machte man sich sonntags gelegentlich auf den weiten Fußweg nach Howard, wo dann und wann ein reformierter Wanderprediger aus der Schweiz das Evangelium auslegte.
|
Auf dem Friedhof der Immanuel-Kirche
in Plymouth steht dieser Gedenkstein
mit den Namen der Gemeindegründer
aus Nordlippe |
Ansonsten war gewöhnlich die Deele des Reinekingschen Fachwerkbaus Platz für Taufen, Trauungen und Trauerfeiern. Hier fand auch die erste Eheschließung in der lippischen Siedlung Hermann statt, und zwar zwischen dem Kolonisten Friedrich Stock junior und Amalia Reineking, der ältesten Tochter des Auswandererführers Friedrich Reineking.
Bargeld war in dem „Lippe-Detmolder Setttlement" Mangelware. So gingen die Männer oft wochenlang nach Sheboygan, Milwaukee oder sogar bis Chicago, um dort als Maurer, Zimmerleute oder Hilfsarbeiter „Dollars zu machen". Auch die Frauen suchten Verdienstmöglichkeiten, und wenn es als Wäscherin, Dienstmädchen oder Kinderbetreuerin bei den Reichen in Sheboygan und Newton war.
Bei Arbeitssuche Neuland entdeckt
Bei ihren „Ausflügen" in das Landesinnere entdeckten die Männer nördlich und westlich ihrer Siedlung Hermann Gegenden, die ihnen für die Landwirtschaft geeigneter schienen. Und so zogen in den folgenden Jahrzehnten nicht wenige Familien nach Howard's Grove, Green Bay oder bis nach Neu Ulm in Minnesota oder gar bis Nebraska und bildeten weitere „New Lippes" sowie stets auch ihre eigenen, reformierten Kirchengemeinden.
|
Gründer und erster Leiter des lippischen
Missionshauses, Professor Mühlmeier |
Durch gemeinsam engagierte Prediger, Kreuz-und Querhochzeiten und die Sprache hielt man über Generationen eng Verbindung miteinander. Hauptbindeglied wurde schließlich das „Lippische Missionshaus" in Howard's Grove, das auf Anregung von Pastor Heinrich Winter und dessen Kollegen Mühlmeier zur Ausbildung eigener Prediger und deutscher Lehrer entstand.
Der Patriarch aller Lipper in Wisconsin, Bauer Friedrich Reineking, kam im Jahre 1861 im Alter von 71 Jahren beim Fällen eines Baumes zu Tode. Gerade, als seine Männer den Kerb zu der Richtung geschlagen hatten, in die der Stamm fallen sollte, packte eine Gewitterbö die Krone und warf den Baum auf die Gegenseite, traf Reineking und erschlug ihn.
So hat dieser legendäre „Führer der Lipper Mucker", wie er in einem Bericht seiner Kritiker in Detmold bezeichnet wurde, die Einweihung des von ihm als Bauer und Zimmermann geplanten „Missionshauses" (später und bis Mitte des 20. Jahrhunderts: „Lakeland College") im Jahre 1862 nicht mehr erleben können.
Auch die Planung der ersten „Lippe-Kirche" (Name „Reformed Immanuel Church") hatte in seinen Händen gelegen. „Er ist der wahre Vater aller Lipper in Wisconsin gewesen", schrieb seine Urenkelin Ruth Reineking 1965 in die Familienchronik.
Während Pastor Dr. H. A. Mühlmeier die Leitung des „Missionshauses" übernahm und von hier aus die zahlreichen Tochtergemeinden der Lipper mit eigenen reformierten Predigern versorgte, kümmerte sich sein Amtsbruder Heinrich Winter um die nach und nach neu entstehenden lippischen Sprengel wie in Sheboygan Falls, Centerville, Rhine, Manitowoc, Mosel, Sarons.
|
Das berühmte Missionshaus (später Lakeland
College) in Elkhart Lake, Sheboygan County |
Von Pastor Winter wird berichtet, er hätte insgesamt mehr als 30 Kirchengemeinden gegründet und in den US-Bundesländern Wisconsin, Iowa, Illinois, Indiana und Missouri mehrere hundert Orte mit lippischen Siedlern als zeitweiliger Prediger und Ratgeber gedient, und das anfangs zu Fuß, später auf seinem berühmten, mächtigen „Missions-Schimmel".
Heinrich Winter, der gelernte Kaufmann aus Lemgo, hatte bereits 1846 in St. Louis als „Colporteur" für die New Yorker ev. Traktat-Gesellschaft gearbeitet, die von New York aus die „Neue Welt" mit Bibeln, frommen Büchern und erbaulichen Schriften versorgte. Zum Vor stand dieser Gesellschaft gehörte zeitweilig übrigens auch der westfälische Wanderprediger August Rauschenbusch, von dem wir wissen, dass er auf seinen Missionsreisen zwischen 1840 und 1860 wenigstens fünfmal den Atlantik überquert hat.
Lemgoer Kaufmann und späterer Pastor Winter als Kundschafter ein Jahr voraus
Heinrich Winter ist es denn auch gewesen, der seinem Bruder Adolf nach Brake schrieb, wie frei und unabhängig man in Amerika leben könne und dass er doch mit weiteren Lippern nachkommen möge. So sind seinerzeit die beiden, 1847 folgenden Auswandererzüge von Brake als auch Langenholzhausen (der eine nach Missouri, der andere nach Wisconsin) zustande gekommen.
|
Die erste Farm der Langenholzhausener Auswandererfamilie Stölting
steht noch im Original |
Seine Ausbildung als Prediger bekam Winter ab 1850 in Mercersburg, Pennsylvania. Sein Lehrer und späterer Ephesus am „Missionshaus" war der Schweizer Theologe Dr. J. Bossard, von 1854 bis 1858 selbst Pfarrer in Hermann, gefolgt bis 1870 von Dr. H. A. Mühlmeier.
Pastor Winter sammelte für den Bau des Missionshauses überall im Lande das nötige Geld, und Zimmermeister Friedrich Stölting sorgte für die Verwirklichung des Bauwerks.
Wegen der großen Nachfrage nach Predigern war das hölzerne Gebäude schon nach 10 Jahren zu klein, so entstand das heute noch vorhandene Missionshaus aus Stein, seit 1956 Museum unter dem vorherigen Namen „Lakeland College". Der Schulbetrieb selbst wurde in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts zentral nach Minnesota verlegt.
|
Die Hofmühle der Stöltings in Hermann
Wisconsin. Vorbild war ihre lippische
Dorfmühle gewesen |
Die größten Zweig-Kolonien der Lipper, vor allem zwischen 1850 und 1890 durch nachreisende Auswanderer aus Ostwestfalen-Lippe entstanden, befinden sich in Greenwood, Newton, Marshfield und Neilsville (Wisconsin). Im Staate Iowa sind das Baxter (Jefferson County) und Hubbard (Hardin County). Hubbard war ein besonders großes Zentrum der Lipper aus Stemmen an der Weser, einem Nachbarort von Langenholzhausen in Lippe.
Die Lipper aus Brakelsiek zogen nach Freeport und Davis in Nord-Illinois. Selbst im fernen Präriestaat Nebraska entstanden Neu Lippes, wie bei Omaha oder Crawford im weiten Westen.
Kohlstädter gründeten Kohl City
Auswanderer aus Kohlstädt (Lippe) dagegen hatten einen Führer aus Nordhemmern bei Minden. Das war der Schmiedemeister Heinrich von Behren. Dieser bezog früher seine Holzkohle von den Köhlern aus Kohlstädt. Als diese wegen Holzmangels und anderer Not in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts auswandern wollten, stellte sich ihnen der ostwestfälische Schmied als Anführer zur Verfügung. Schließlich kannte er den Weg bereits von einem in Missouri lebenden Vetter aus Hille.
|
Seelsorger ab 1846/47 bei den
ersten eingewanderten Lippern:
Pastor Winter aus Lemgo |
So zogen an die 100 Kohlstädter und Nord-hemmerner Familien denn nach Missouri und gründeten hier ihr „Neu Kohlstädt" (Kohl City). Dort gibt es übrigens eine kilometerweit und schnurgerade zum Pass hoch führende Straße mit dem Namen „Bauerkamp" - von den Kohlstädtern so benannt in Erinnerung an einen täuschend ähnlichen Passweg zwischen dem lippischen Kohlstädt und Velmerstot.
Die meisten wurden und blieben Bauern
Aus den Archiven und Chroniken aller Lipper Settlements in den USA und bei persönlichen Besuchen vor Ort hat der Verfasser festgestellt, dass sowohl die Langenholzhausener Auswanderer als auch ihre Landsleute in den anderen US- Bundesländern beruflich in der Mehrheit Bauer bzw. Farmer sein wollten und dies auch wurden, bis in die heutige Generation.
Dabei setzten sie in der neuen Heimat eine bewährte Tradition vielfach fort: Im kleinstrukturierten Langenholzhausen waren die Höfe so klein und die Böden oft derart arm, dass man selbst als Erbe einer Stätte einen „ordentlichen" Beruf wie Maurer, Tischler, Ziegler, Zimmermann, Korboder Holzschuhmacher „zulernte".
Genau dies haben die Nachfolger des sagenhaften Auswandererführers und Lippischen Bauern Friedrich Reineking in „Neu Lippe" fortgeführt - was ihren Urenkeln auf den angestammten Höfen in Hermann, Rhine oder Greenwood heute hilft, dank handwerklichen Zuerwerbs auf ihren Betrieben von durchschnittlich 100 bis 300 Hektar, trotz unzureichender Erlöse, zurechtzukommen und ihre ererbten Farmen für die Familien zu erhalten.
|
Einwanderer-Sohn Arnold Stölting zeigt auf seinem Grundstück, wie die
Lipper auch in Amerika Fundamente aus Bruchsteinen und Findlingen
bauten - wie früher zu Haus in Langenholzhausen |
Wegen der schlechten Lage in der Landwirtschaft aufgeben? Davon wollen die Farmer in „Neu Lippe" Wisconsin bis heute nichts wissen.
Der damals 93-jährige Auswanderersohn Arnold Stölting sagte dem Verfasser bei einem Besuch im Jahre 1985 auf Original Lipper Platt, er habe von seinem Vater gelernt: „Wenn du auf einem Bein nicht stehen kannst, dann musst du dir weitere Beine suchen!"
So war Stölting, außer Farmer, auch Tischler und Maurer, seine Frau Krankenschwester.
Immer noch lippisch sparsam
Kinder und Enkel halten*s bis heute genauso nach alter lippischer Art und bewahren damit auch ihre Farmen vor dem Ausverkauf. Wobei die heutigen Bewohner von „Neu Lippe" , wie ihre Vorfahren, von außerordentlicher Sparsamkeit geprägt sind.
Der „nebenbei" als Drainageunternehmer tätige Farmer Daniel Bödecker von Howard's Grove zeigte uns eine Straße, die von seiner Immanuel- Kirche nach Howard's Grove führt: „Das ist unsere ,Spar-Road', wie Nichtlipper immer gespottet haben. An der selbst gebauten .Spar-Straße' wohnen nämlich, bis heute, nur Lipper. Einer neben dem anderen. Diese bissen früher lieber einen Pfennig durch, als dass sie ihn gleich in einem Stück ausgaben!"
|
Arnold Stölting (rechts) und sein Nachbar
Daniel Boedecker geben dem Autor wahlweise
hoch- und plattdeutsch ein Interview |
Ministersohn sollte lippischer Konsul in Sheboygan werden
Durch ihren Fleiß und große Sparsamkeit brachten es viele Neu-Lipper schon in den Jahren nach 1860 zu einigem Wohlstand. In ihrer christlichen Nächstenliebe schickte manch einer von ihnen den daheim gebliebenen, notleidenden Angehörigen Geld. Umgekehrt machte der eine oder andere in Langenholzhausen, Hohenhausen oder Brake eine Erbschaft. Doch wer sollte den Geld- und Dokumenten-Transfer vertrauensvoll besorgen?
Da trafen die Lipper in Sheboygan einen ehrenwerten Kaufmann aus Lippe namens H. F. Piderit. Dieser, Sohn eines hohen Beamten der lippischen Regierung, war 1851 zusammen mit einigen Freunden nach St. Louis ausgewandert. Hintergrund waren offenbar die 1848/49er Unruhen.
Jedenfalls schrieben mehr als 100 Neu-Lipper Männer, von A (wie Simon Arpke aus Eichholz) bis W (Gebrüder Weber aus Langenholzhausen) ein gemeinsames Gesuch an das „Hochfürstliche Cabinets-Ministerium von Lippe-Detmold" mit der freundliche Bitte, „besagten Kaufmann Piderit zum Konsul für die nordwestlichen Staaten von Nord-Amerika zu ernennen, da damit mancher geschäfilichen Weitläufigkeit abgeholfen würde. Sheboygan, den 21. März 1861."
Zur Bekräftigung setzte Prof. H. A. Mühlmei er als ev. ref. Prediger an der Immanuel-Kirche seine befürwortende Stellungnahme hinzu, ohne zu vergessen, lokalpatriotisch hinzuzufügen: geboren in Kleinenmarpe, Lippe!"
|
Hier trugen 1991 der damalige Bürgermeister Richard Schneider
(Mitte) und die Lehrerin Ann Keckonen (Sister Cities
International), (links), dem Autor ihren Wunsch vor, mit der Stadt
Detmold eine zweite Partnerschaflsverbindung Sheboygans
einzugehen. Viele Jahre zuvor war von hier aus bereits eine
Sister-City-Verbindung mit Esslingen am Neckar geschlossen
worden |
Es hat den Neu-Lippern nichts geholfen: Die lippische Regierung lehnte das Gesuch aus Sparsamkeitsgründen kurz und bündig ab.
Im NRW-Staatsarchiv in Detmold kann man heute die Begründung in den damaligen Akten nachlesen: Durch ein solches Konsulat in Amerika möglicherweise entstehende Kosten seien nicht zu vertreten. Basta!
Nach dem Krieg: Hilfe aus Amerika für soziale Einrichtungen in Lippe
Trotz der beiden Weltkriege haben sehr viele Auswanderer, deren Kinder und Enkel die lippische Heimat und ihre Stammfamilien dort nicht vergessen und ständig Kontakt gehalten. Bindendes Glied war vielfach die gemeinsame Konfession, die bis weit nach dem ersten Weltkrieg bei Bedarf sogar zu einem Austausch von Geistlichen führte.
Unvergessen ist in Lippe ein Werk der Nächstenliebe, das in den deutschen Notjahren nach dem ersten Weltkrieg durch eine „American Lippe Relief Society" zu St. Louis offenbar unter lippischen Einwanderergemeinden des Mittleren Westens auf die Beine gestellt worden war.
Diese Organisation sammelte 1920 für den Bau eines Kinderheims in Lippe 1 800 $. Das Geld genügte, um dafür in Bad Meinberg ein entsprechendes Gebäude zu erwerben. 1921 veranstaltete dieselbe amerikanische Organisation ein Wohltätigkeitskonzert zu Gunsten des Detmolder Diakonissenhauses und für die Kinderheilanstalt Bad Salzuflen.
„Tabea", die seinerzeitige Hauszeitschrift des Diakonissenhauses in Detmold, hat die lippische Bevölkerung über diese und noch weitere Hilfsaktionen amerikanischer Lipper stets dankbar informiert.
Aus dem Buch Westfalen in Amerika
http://www.rretc.com/familyhistory/lippe_detmold/
Home |