Auswanderung Lippe-USANaturwissenschaftlicher und Historischer Verein für das Land Lippe e.V. |
Friedel Schütte
Sheboygan / Neu Lippe:
Eine der größten Siedlungen
lippischer Amerika-Auswanderer in der NEUEN WELT
500 Jahre Entdeckung Amerikas: Die Lipper waren schon ganz früh dabei!
Abschrift aus dem Heft Heimatland Lippe Januar 1993
Spätestens das Jubiläumsjahr der Entdeckung Amerikas (1492 - 1992) hat es an den Tag gebracht: Nicht nur Hessen und Württemberg, Hannover und Westfalen, sondern auch Lippe war ein bedeutendes Auswandererland.
Über 10000 lippische Amerika-Auswanderer des 19. Jahrhunderts sind durch Fritz Verdenhalven bzw. den Naturwissenschaftlichen und Historischen Verein für das Land Lippe namentlich ermittelt worden. Eher doppelt soviele könnten es gewesen sein, wenn die Scharen heimlicher Emigranten, deren Namen nirgendwo verzeichnet sind, hinzugerechnet werden!
Lipper-Auswandererführer Friedrich Reineking
aus Langenholzhausen/Lippe.Schätzungsweise 80 v. H. aller Lipper und Ostwestfalen zogen dorthin, wo sie weiter ihr vertrautes Platt sprechen und nach Väter Weise selig werden konnten: In die sogenannte „Plattdeutsche Prärie" zwischen Chicago und St. Louis, nach Missouri, Illinois, Indiana, Iowa, Michigan und Nebraska. Siedlungsnamen wie Detmold, Hermann, Neu Kohlstädt und Neu Brakelsiek zeugen davon. Lipper waren zwischen 1830 und 1880 aber auch dabei, als Ortschaften wie Holstein Missouri, Freeport Illinois oder Quincy Illinois errichtet wurden.
Mehr als die Hälfte aller Einwohner in Holstein Missouri oder Westphalia Indiana sind Lipper - jedenfalls Lipper gewesen! -, als jene Gemeinden im vergangenen Jahrhundert entstanden.
Lipper waren schon immer mobil. Vor allem in Richtung Niederlande. Das hatte mit der traditionellen Freund- und Verwandtschaft zwischen beiden Regentenhäusern zu tun. Es lag aber auch im Wirtschaftlichen begründet:
Lippische Tagelöhner und Heuerlinge mähten Jahr für Jahr in Holland die Wiesen. Und manch einer blieb dort oder wanderte gar,
per Schiff, weiter in die niederländischen Kolonien, wie das Verdenhalven-Buch „Auswanderer aus dem Fürstentum Lippe" aufzeigt. Bis nach Sumatra und Borneo. Und vereinzelt wurden dabei Lipper sogar reich.
Original Lipper Farm Stölting in Hermann, Wisconsin.Lippische Ziegler tippelten bis Bremen, Lübeck und Hamburg und brannten Ziegel für die Städter. Nicht wenige kamen schon im 18. Jahrhundert mit Amerikafahrern zusammen und ... folgten ihnen. Wenn auch nur „tröpfchenweise".
Die womöglich erste größere Gruppe von Lippern in der NEUEN WELT ist gegen 1770-80 in Nordamerika aufgetaucht. Unfreiwillig: Der Lippische Obrist von Donop hatte für das britische Königshaus erwerbslose Lipper zum Kampf gegen das revoltierende Amerika ausgehoben. Und er war dabei derart rauhbeinig vorgegangen, daß die Lippischen Intelligenzblätter vor „unanständigen Anwerbepraktiken eines gewissen Obristen" warnten.
„ Missionshaus " der Lipper (von Pastor A. Winter)
in Howard's Grove, Sheboygan (Neu Lippe).Gleichwohl gingen manche mit, um hierzulande nicht mehr Hunger zu leiden.
Drüben, bei Boston und Philadelphia, erkannten viele lippische Söldner jedoch bald, auf welcher Seite für die Freiheit gekämpft wurde, und wechselten die Fahnen. Veteranen aus jenem Krieg siedelten sich vermutlich bei Washington D. C. an und gründeten dort ihr Neu Detmold - wovon heute ein Straßenzug kündet.
Bewiesen ist dies (noch) nicht. Sondern aus Fakten zusammengereimt. Also wieder ein dankbares Thema für Geschichtsstudenten?!
Der eigentliche Auswandererstrom von Ostwestfalen-Lippe nach Amerika setzte aufgrund von Mißernten und Überbevölkerung erst in den 30iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein. Allein aus dem heutigen Regierungsbezirk Detmold wanderten mindestens 150000 Menschen Richtung USA aus, an der Spitze die Kreise Minden, Lübbecke, Lippe, Herford. Und bei etwa 2 v. 100 spielte nicht nur der tägliche Hunger, sondern auch das politisch-soziale Gefüge der Heimat eine Rolle:
• Zwei Söhne des Fabrikanten Hoffmann aus Bad Salzuflen, Louis Piderit aus Detmold oder C. Vortriede aus Heiden gingen nach 1848 aus politischen Gründen fort.
• 112 Langenholzhausener Bürger verließen Lippe 1847 unter Leitung des Bauern Friedrich Reineking Richtung NEUE WELT, weil sie sich in ihrer christlichen Bewegungsfreiheit eingeengt sahen, ähnlich wie der Schäfer und spätere Pastor August Kuhlenhölter aus Wüsten.
• Mancher hatte auch etwas ausgefressen: War unversehens Vater geworden, ohne es sein zu wollen; oder hatte, als Magd, keine Chance, zu Land- und Hofbesitz zu kommen und verließ Lippe bei Nacht und Nebel.
Arnold Stölting zeigt: Die Lipper bauten mit Bruchsteinen (wie zu Hause).Eines der größten lippischen „Settlements", und eines der ältesten dazu, befindet sich im Norden des Bundesstaates Wisconsin. Im Kreis Sheboygan am Michigansee.
Kürzlich reiste erstmals eine Besuchergruppe von Alt-Lippe nach „Neu Lippe", wie die ersten Siedler 1847 ihre neue Heimat nannten, um zu sehen, was drüben in Ortschaften wie Howards Grove und Hermann noch an Lippischen zu finden ist.
Die Reisenden (und darunter auch viele Mitglieder des Lippischen Heimatbundes sowie Journalisten von Tagespresse, Rundfunk und Fernsehen unserer Region) kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus:
Nicht nur, daß im Kreis Sheboygan etwa jeder Zweite Deutsch versteht; sondern an den beiden High Schools und dem College wird über acht Schuljahre hinweg „stramm" Deutsch unterrichtet .Als der Leiter der Reisegruppe, Friedel Schütte, im Saal der Stadtbücherei von Sheboygan Dias von Lippe zeigte und anschließend 400 Zuschauer zur Diskussion bat, meldete sich eine Bürgerin von Hermann zu Wort: „Der einzige Fehler ist, daß Sie Englisch gesprochen haben. Deutsch wäre uns lieber gewesen. Wir können es nämlich alle verstehen!"
Und dann erst Plattdeutsch: Gut, nur etliche Ältere sprechen es noch! Aber die es benutzen, wie der 93jährige Altbauer Arnold Stölting, Enkel eines der 112 Langenholzhausener Emigranten, die artikulieren „echt Lippisch", sagen „chanze Masse" statt „ganze Menge" und halten es mit den aufeinanderfolgenden Konsonanten (Folge: „Mui" und „dui", „jui" und „bui") so lippisch, daß es allen Freunden der plattdeutschen Sprache hierzulande warm urns Herz wird.
Da wird lippische Gastfreundschaft auch drüben, achttausend Kilometer von Detmold entfernt, großgeschrieben, und das überlieferte Kulturgut der Heimat hochgehalten, einschließlich Spruchweisheiten.
Als Radio-Lippe-Chefredakteur Axel Riepenhausen Arnold Stölting fragte, ob er sich denn noch an einen (plattdeutschen) Spruch seines Vaters aus Lippe erinnern könne, da kam es wie aus der Pistole geschossen: „Ober jo: Langsam Patt ... kümp ä-uk to Statt!"
Arnold Stöltings Hof ist noch so, wie ihn die Pioniere mit ihren Handsägen und lippischen Zimmermannsbeilen zurechtgezimmert hatten: Für die Ewigkeit, aus Bruchsteinen und Hartholz, zusammengefügt! Da sieht man noch handbehauene Türständer und sogar Fachwerk. Leider seien die alten lippischen Häuser (zuerst nur in Fachwerk errichtet) fast allesamt (aus Unkenntnis) abgerissen worden, klagt Architekt M. Pape aus Hermann Wisconsin. Aber: „Wir haben in Wisconsin trotzdem noch 300 alte lippische und Pommersche Fachwerkhäuser aus Gründerzeiten, die wir erhalten wollen."
Wie man das macht, hat der Baumeister bereits beim Westfälischen Freilichtmuseum in Detmold nachgeforscht. „Weil da ja noch alles so dasteht, wie es unsere Vorfahren verlassen haben", meint Pape, und liegt damit sicher richtig. Das Anwesen des kinderlosen Lipper Auswanderernachfahren Arnold Stölting soll, wenn es nach dem Willen von Bürgermeister Richard Schneider geht, eines Tages Sheboygans Freilichtmuseum werden. „Damit spätere Generationen, wie bei Euch in Lippe, sehen können, was unsere Vorfahren alles so gebaut haben!"
Bis vor wenigen Jahren wußte man in Lippe allgemein sehr wenig oder nichts von „Neu Lippe" in Wisconsin. Da entdeckte Friedel Schütte aus Löhne, ein gebürtiger Bad Salzufler in der Staatsbibliothek in Washington D. C. zufällig ein 1895 in Milwaukee in deutscher Sprache herausgekommenes Buch von Jerome C. Arpke: „Das Lippe Detmolder Settlement in Wisconsin".
Zu Haus in Ostwestfalen fragte der Journalist und private Auswandererforscher heimische Archive nach dem Buch. Ohne Erfolg. Stattdessen meldete sich Frau Marianne Rasper, Künstlerin aus Herford und gebürtige Wüstenerin: Sie habe so ein Buch von ihren Vorfahren bekommen.
Im Nu war diese Nachricht beim Staatsarchiv, das den „Schatz" unverzüglich nach Detmold holte, wo er heute noch liegt und darauf wartet, daß sich ein Mäzen findet, der einen Reprintdruck ermöglicht, damit alle interessierten Lipper lesen können, auf welch abenteuerliche Weise Friedrich Reineking und seine übrigen Langenholzhausener ausgerechnet an den Michigansee kamen - wo sie gar nicht hin wollten ...
Einer der, die den 112 Langenholzhausenern, die unter so ungewöhnlichen, religiösen Begleitumständen ausgewandert waren, nachreisten, war im Sommer 1991 Friedel Schütte während einer Rundfunk-Dienstreise in den USA: Er wollte sogenannte „O-Töne" für eine Hörfunk-Sendereihe des Westdeutschen Rundfunks, Landesstudio Münster (aus Anlaß der 500. Wiederkehr der Entdeckung Amerikas) sammeln und machte so auch in „Neu Lippe" Wisconsin halt.
Nicht nur, daß er alle gewünschten deutschen Fragen und Antworten über Amerika-Auswanderer und deren Nachfahren „in den Kasten" bekam. Sondern Bürgermeister Schneider, Heimatvereinsvorsitzender Roland Schomberg und Dränageunternehmer Daniel Boedecker richteten über ihn auch eine Einladung an alle Alt-Lipper aus: „Laßt uns die über zwei Weltkriege und 140 Jahre hinweg verschütteten Verbindungen wiederaufnehmen und einander besuchen!" bat Dan Boedecker. „Wir möchten so gerne unsere Roots (Wurzeln) in Lippe wiederfinden!"
Und so kam es zu der von den lippischen Volksbanken organisierten ersten Gruppenreise nach „Neu Lippe" Wisconsin, der noch viele folgen sollten. Und: Vom 20. - 23. Juni 1993 werden, umgekehrt, erstmals 40 „Neu Lipper" das Heimatland ihrer ausgewanderten Vorfahren besuchen und dabei versuchen, vergessene Verwandtschaften neu zu beleben.
Lipper-Pfarrer Dr. Friedrich Thiele bei der Festpredigt
in der Kirche, wo sein Vater 1923-27 Pastor war!Wie das auf der Lipper Reise im vergangenen Juni auf dem Hofe Stölting passierte: Arnold Stölting und Erika Flörkemeier aus Kalletal unterhielten sich miteinander. Plötzlich fiel dem Bruder, Fritz Brandsmeier, auf: „Mensch, ihr seht einander täuschend ähnlich. Vor allem die Nasen ...!" und in der Tat: Als beide ihre Stammbäume verglichen, kam heraus, daß sie dieselben Ururgroßeltern hatten! Wie immer sich die Verbindung zwischen „Lippe Detmold" und „Neu Lippe" entwickeln mag, und es sind schon viele Dinge, wie Jugend- und Kulturaustausch, geplant: Eine „Sister-City-Verbindung" ist weder erwünscht noch möglich: Detmold hat bereits zahlreiche Partnerstädte, und Sheboygan ist längst mit Eßlingen am Neckar verschwistert.
„Aber", meinte Bürgermeister Schneider (Sheboygan) beim Abschiedsempfang, als die Fahnen ausgetauscht worden waren und Karl-Ernst Himstedt den Neu-Lippern das Kostüm eines Lippischen Schützen überreicht hatte: „Wir machen Detmold zu unserer Bruderstadt. Mit Bruder und Schwester in Deutschland: Das ist eine gute Perspektive für ein völkerverbindendes Miteinander!"