Lippische Rose

 Auswanderung Lippe-USA 

Naturwissenschaftlicher und Historischer Verein für das Land Lippe e.V.

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Mit Verdi für den Ausbau der Badeanstalt – Aus dem Leben der Opernsängerin Kathleen Kersting

Von Heinz Wiemann +

Heinrich Richterkersting von der Stätte Nr. 17 in Schlangen (heute Langetalstraße Nr. 7) war 16 Jahre alt, als er im Herbst 1879 nach Amerika auswanderte. Der Vater, 1838 geboren, folgte ihm ein Jahr darauf mit vier Kindern – die Ehefrau und Mutter war 1876 verstorben. Auf der jahrhundertealten Stätte Nr. 17 wechselten die Hausnamen: Neese, Mense, Kleine, Schlüter.
Heinrich Richterkersting, in der Neuen Welt Henry Kersting genannt, wurde 1908 Vater einer Tochter, die als Opernsängerin „über eine große Stimme“ verfügte: Kathleen Kersting. Vor 90 Jahren kam sie mit ihrem Vater in den Geburtsort ihrer deutschen Vorfahren, sie besuchte Schlangen.

An der Weser in Bremerhaven errichtete die German-American Memorial Association im Jahr 1980 den deutschen Auswanderern ein Denkmal.
Zu den Auswanderern gehörte neben weiteren Schlängern Heinrich Richterkersting sowie sein Vater und die Geschwister.
Foto: H. Wiemann, 1992

In der Lippischen Landes-Zeitung war am 2. Juni 1926 zu lesen: „Wie ein Lauffeuer ging es gestern durch Schlangen, daß altbekannter Besuch aus Nordamerika eingetroffen sei, und es war Tatsache. Herr Richterkersting mit seiner Tochter war in der alten Heimat angekommen. Einer alteingesessenen Familie hier entstammend, war er mit seinem Vater und Geschwistern in den Jahren 1879/80 nach den Vereinigten Staaten ausgewandert und hatte sich dort eine Farm erworben, auf welcher sie sich emporarbeiteten. Schon 1893 war Herr Richterkersting einige Monate zum Besuch hier, ein Zeichen, daß er die alte Heimat nicht vergessen hatte. Jetzt wird er das alte Schlangen nach dem großen Brand von 1904 kaum wiedererkannt haben.“

Vor 90 Jahren, am 2. Pfingsttag 1926, wurde in Schlangen die Badeanstalt eröffnet. Was die amerikanische Opernsängerin Kathleen Kersting mit dem Schwimmbad in Schlangen zu tun hatte, vermittelt ein Beitrag, der am 16. September 1926 in der Lippischen Landes-Zeitung erschienen ist:

„Ein besonderes Ereignis war das Konzert von Fräulein Kathleen Kersting, das am Sonntagabend unter Mitwirkung des Männerchors ‚Harmonie‘ und des Herrn Schierholz aus Lage im Sibillischen Saale in Schlangen stattfand. Die junge Sängerin weilt seit Mai d. J. mit ihrem Vater, der vor langen Jahren nach Amerika auswanderte und sich jetzt wieder in Deutschland aufhält, bei ihren Verwandten in Schlangen.

Die Künstlerin hat eine mehrjährige Ausbildung in Paris genossen, sie verfügt über eine große Stimme, die auch in den höchsten Lagen gleich und angenehm bleibt, und über eine gediegene Technik. Mit Liedern und Balladen von Schubert, Abt u.a. fand die vielversprechende junge Sängerin herzlichen Beifall und war Gegenstand besonderer Ehrungen, die auch in reichen Blumenspenden Ausdruck fanden. Den vollen Glanz ihrer Stimme und Technik entfaltete die Sängerin schließlich in einer großen Arie aus ‚La Traviata‘ von Verdi.
Ihre Begabung weist die Künstlerin ohne Zweifel auf den Bühnengesang. Die Solovorträge waren umrahmt von Männerchören der ‚Harmonie‘ unter der bewährten Leitung des Herrn Lehrers Lütchemeier und von Violinduetten der hier bestens bekannten Herren Schierholz und eines jungen Geigers von hier.

Der stattliche Ertrag des Konzerts ist der Gemeinde in dankenswerter Weise zum weiteren Ausbau der Schwimm- und Badeanstalt überwiesen worden. – Wie wir ferner hören, hat sich Fräulein Kersting, die in nächster Woche nach Italien zwecks Vollendung ihrer Ausbildung abreist, noch in uneigennütziger Weise für ein Konzert für die hiesigen Kinder zur Verfügung gestellt.“

Anno 1926 feierte die Sängerin Kathleen Kersting aus Amerika ihren 18. Geburtstag mit zahlreichen Schlängern im Gasthof Zur Rose. Sie ist in der Bildmitte hinter der Torte zu erkennen. Neben ihr (mit Fliege) der Vater Henry Kersting, der 1863 in Schlangen geboren wurde und im Alter von 16 Jahren auswanderte.
Foto: Sammlung Wiemann

„… dann hat das Leben für mich wirklich keinen Zweck.“

Was ist aus Kathleen Kersting geworden? Es gibt Spuren. Briefe sind in Schlangen angekommen, ein paar aus der Zeit des Dritten Reiches sind erhalten geblieben – Briefe aus Königsberg, Braunschweig, Lübeck, Schwerin. Aus drei Briefen sei zunächst zitiert:
Königsberg, März 1933:
„Ich bin momentan in einer Situation, der ich gar nicht gewachsen bin. Hier von der Oper bin ich zwangsbeurlaubt worden – als Ausländerin und als Jüdin. Eine Schwedin, Ruth Berglund, und ich. Sie wurde nach zwei oder drei Tagen wieder angenommen. Ich sehe, daß mein Amerikanerinsein keine Rolle spielt, sondern die falsche Behauptung, daß ich Jüdin sei.
Ich bin einfach ohne weiteres und aus falschen Gründen an die Luft gesetzt worden. Und das Furchtbare ist: Solange ich auf dieser Liste als Jüdin stehe, bekomme ich kein neues Engagement in Deutschland. Ich bin ganz verzweifelt. Heute fahre ich nach Berlin, um mit dem Botschafter zu sprechen, was ich tun kann, um klarzustellen, daß ich keine Jüdin bin. Wenn ich das nicht erreichen kann, bin ich für Deutschland als Künstlerin erledigt … Nun nimmt man meine Kunst von mir weg. Wenn das so bleibt, dann hat das Leben für mich wirklich keinen Zweck.“

Königsberg, Karfreitag 1933:
„Durch die amerikanische Regierung ist meine Sache vollkommen in Ordnung gebracht worden, nicht ohne Schwierigkeiten – hier oben am Theater sind einige Leute nicht ganz anständig. Aber das macht nichts. Die Hauptsache ist, daß diese Zwangsbeurlaubung aufgehoben worden ist und ich hier in Deutschland wieder leben und arbeiten kann. Ich habe noch drei Vorstellungen hier, zweimal ‚Parsifal‘ und einmal ‚Götterdämmerung‘. Wieder engagiert hier werde ich nach dieser Sache sicherlich nicht. Schade, ich war gern hier und habe auch gute Kollegen gehabt.
Aus Aachen habe ich ein Angebot. Von Berlin aus werde ich für ein paar Tage nach Aachen fahren, um dort vorzusingen. Gott gebe, daß etwas daraus wird! Ich meine, deutsche Künstler werden bevorzugt, aber ich hoffe von ganzem Herzen, daß ich irgendwo ein Plätzchen finden kann. Ich hänge ja so an meiner Kunst – sonst habe ich nichts auf dieser Welt …“

Schwerin, 21. Dezember 1943:
„Bei uns ist gänzliche Urlaubssperre am Theater. Im Januar reise ich nach Wien und nach Prag, eine große Strapaze heutzutage. Das Leben ist zur Zeit ein Moloch, der einen auffrißt. Der tägliche Kampf ums Dasein ist schon eine solche Kraftprobe geworden! Ich werde den Heiligen Abend allein verbringen, immer im Geist mit meinen lieben Menschen verbunden. Ich wünsche Euch viel Gutes zum Neuen Jahr. Vor allem, glaube ich, wünscht jeder den Frieden …“

Heinz Wiemann ist in den letzten 20 Jahren wiederholt Spuren des Lebens der Opernsängerin Kathleen Kersting gefolgt. Der Internet-Experte Heinz-Dieter Brand hat geholfen. Weitere Ausführungen zur Biografie der Künstlerin werden folgen.

(Publiziert am 23. März 2016)


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